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Hinlauftendenz bei Demenz - Hintergründe und Umgangshilfen

by Qwiek on

Ungefähr 7 von 10 Menschen mit Demenz erleben irgendwann im Verlauf der Krankheit einen Hinlauftendenz. Der Anteil derer mit einem ausgeprägten Laufdrang liegt zwischen 10 und 25 Prozent. Hinlauftendenzen werden bei fortschreitender Demenz häufiger [1].

Elske Princen ist Hausärztin mit Schwerpunkt Geriatrie und arbeitet zusätzlich in einer geschlossenen geriatrischen Abteilung. „Von 20 älteren Menschen haben etwa 5 oder 6 einen starken Bewegungsdrang“, sagt sie. „Weil kein Garten oder sonstiger großer Platz zur Verfügung steht, fällt es diesen ‘Streunern’ schwer, das unruhige Gefühl loszuwerden.“ Wenn diese Menschen mit Demenz aber den ganzen Tag auf der Station herumlaufen, werden sie irgendwann müde, was das Risiko zu stürzen oder zu stolpern erhöht [2].

Verschwindet jemand mit Hinlauftendenz aus der Pflegeeinrichtung, sind die ersten 24 Stunden maßgeblich: Die überwiegende Mehrheit wird innerhalb dieses Zeitraums wiedergefunden. Danach steigt die Unfall- und auch die Todesgefahr rapide an - durch Verkehr, Unterkühlung, Stürze, stark verbrannte Haut in der Sonne. Die “Flucht” aus der Einrichtung erfolgt oft einige Tage nach der Aufnahme in ein Pflegeheim.

Was ist eine Hinlauftendenz?

Hinlauftendenz oder Bewegungsdrang bezeichnet das auffällig häufige Gehen eines Menschen mit Demenz. Dieses kann je nach Konstitution langsam bis sehr zügig sein und einer geraden Linie oder einem verschlungenen Muster folgen. Aufgrund des für Außenstehende schwer nachvollziehbaren Verhaltens und da sich die Betroffenen oft von den für sie lebensnotwendigen Pflegepersonen oder Pflegeeinrichtungen entfernen, wurde das Phänomen in der Vergangenheit als Weglauftendenz bezeichnet. Hierauf wurde meist mit der Unterdrückung des Verhaltens durch Einschränkung des Bewegungsradius (z.B. Bettgitter, Fixierung etc.) oder sedierende Medikamente reagiert. Mittlerweile wird beides als freiheitsentziehende Maßnahme gewertet, muss durch einen Richter genehmigt werden und ist bei Missachtung strafbar. Weiterhin hat man erkannt, dass die betroffenen Personen in der Regel nicht von etwas weglaufen sondern zu einem konkreten Ziel hinlaufen. Deshalb wird heute von Hinlauftendenz gesprochen. Aufgrund der durch die Demenz hervorgerufenen kognitiven Einschränkungen entstehen hieraus oftmals Konflikte oder sogar eine Eigen- oder Fremdgefährung.

Warum ist eine Hinlauftendenz problematisch?

Ist viel Bewegung aber in jedem Fall ein Problem? Immerhin wird von ärztlicher Seite immer wieder auf einen Mangel an Bewegung in der Gesellschaft hingewiesen - gerade bei alten Menschen. Richtig ist, dass Bewegung die Muskeln, das Herz Kreislaufsystem und den Gleichgewichtssinn trainiert, sowie die Verdauung fördert [3]. Die Fehlende Orientierung und Selbsteinschätzung bei Menschen mit Demenz führt in Kombination mit einer Hinlauftendenz allerdings zu einigen Problemen:

  • Wenn Menschen mit Demenz und Hinlauftendenz ihre Wohnung/ihr Heim ohne Begleitung verlassen, können sie sich weit von zu Hause entfernen und nicht mehr zurück finden.

  • Manche Betroffene können auch dann nicht aufhören zu laufen, wenn sie müde und erschöpft sind. Sie verbrennen dann Kalorien in einer Menge, die durch normales Essverhalten nicht mehr nicht kompensiert werden kann. Hierdurch verlieren sie stetig an Gewicht.

  • Ebenfalls kann es durch die große körperliche Anstrengung beim Gehen zu einer Unterzuckerung (Hypoglykämie) und dann - wie bei Diabetikern - zu bestimmten Verhaltensauffälligkeiten kommen, wie lautes Schreien oder heftiger Widerstand gegen Beruhigungsversuche.

  • Durch das ständige Umherlaufen steigt die Wahrscheinlichkeit von Stürzen und Frakturen.

  • In Pflegeeinrichtungen kann es zu Konflikten mit Mitbewohnern kommen, wenn immer wieder fälschlicherweise deren Zimmer betreten wird.

  • In Kombination mit einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus wird der Laufdrang entsprechend der aktiven Phase in den Abend und Nachtstunden ausgelebt, also in der Zeit, in der wenig Personal und u.U. schlechte Sichtverhältnisse herrschen.

Nicht immer muss auf eine Hinlauftendenz reagiert werden

Bevor über eine Reaktion auf die Hinlauftendenz eines Bewohners oder Patienten nachgedacht wird, ist immer erst zu überlegen, ob diese überhaupt notwendig ist. Führt es zu keinen Konflikten und ist offensichtlich, dass die Person geistig und körperlich vom Laufen profitiert, gibt es keinen Grund, dies zu unterbinden. Sinnvoll ist es deshalb, jeden Einzelfall offen im Team und auch mit externen Beteiligten (z.B. Psychologe, rechtlicher Betreuer) zu diskutieren. Dies führt nicht nur zu bewohnerorientierten Lösungen sondern im Zweifel auch zu einer rechtlichen Absicherung der involvierten Akteure und ggf. der Einrichtung (Stichwort: Freiheitsentziehende Maßnahmen). Die Suche nach der Ursache bedeutet nicht immer, dass Sie das Verhalten stoppen können. Aber es ist wichtig zu klären, was es auslöst und am Laufen hält.Steht anschließend fest, dass das Verhalten eine Reaktion auf negative Erlebnisse ist, steht deren Beseitigung im Vordergrund.

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Was sind die Ursachen für eine Hinlauftendenz?

Eine Hinlauftendenz kann unterschiedlichen und teilweise auch mehreren Ursachen geschuldet sein [3]. Durch Beobachtung, Betrachtung der Biografie und Gespräche mit den Betroffenen und deren Angehörigen können diese oftmals erklärt werden. Hierbei gibt es unterschiedliche Ursachen für das Verhalten. In den allermeisten Fällen ist davon auszugehen, dass Menschen mit Hinlauftendenz ein konkretes Ziel haben, das sie erreichen möchten. Dieses Ziel verbinden sie mit einem gesteigerten Wohlbefinden, also z.B. eine bestimmte Person (z.B. Mutter) oder ein bestimmter Ort (z.B. eigene Wohnung). Dabei muss man sich als Pflege- und Betreuungskraft klarmachen, dass diese Dinge vielleicht weit in der Vergangenheit liegen (z.B. mittlerweile erwachsene Kinder, Elternhaus etc.). In manchen Fällen versucht die Person aber sich etwas zu entziehen, also tatsächlich wegzulaufen. Dies kann einem Unwohlsein (z.B. Geräuschkulisse), Überforderung (z.B. Hektik der Umgebung) oder Bedrohlichkeit (z.B. viele Fremde in einem Heim) geschuldet sein.

Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, warum Menschen mit Demenz eine Hinlauftendenz entwickeln:

  • Gewohnheit: Menschen, die sich schon Ihr Leben lang viel bewegt haben, setzen dieses Verhalten auch mit einer Demenz fort (.z.B. Postbote)

  • Langeweile, Neugier, Einsamkeit: Aufgrund von fehlender Beschäftigung, Wissbegierde oder mangelndem sozialem Kontakt wird die Umgebung erkundet

  • Verunsicherung: Aufgrund der nachlassenden Kommunikationsfähigkeit entwickelt sich das Laufen als Vermeidungsstrategie für mögliche peinliche Situationen.

  • Schmerzen/körperliches Unwohlsein: Mit der andauernden Bewegung wird von Schmerzen und Unwohlsein abgelenkt

  • Medikamente: Manche Medikamente können unbeabsichtigt einen Bewegungsdrang auslösen.

Negative interne Faktoren (Körper)

Wird davon ausgegangen, dass die Hinlauftendenz das Resultat eines negativen Erlebens ist, sollten als erstes die körperlichen Funktionen überprüft werden. Somatische Ursachen sind in vielen Fällen schnell gefunden: Schwitzt oder friert ein Mensch mit Demenz, kann das Laufen als instinktive Reaktion ausgelöst werden. Hier kann angepasste Kleidung (z.B. T-Shirt oder Thermowäsche) für Abhilfe sorgen. Eine Untersuchung der Gliedmaßen auf schmerzempfindliche Stellen bringt weitere Erkenntnisse, z.B. durch Muskel- oder Gelenkprobleme ausgelöste Schmerzen, von denen durch Herumwandern abgelenkt wird. Paradoxerweise sind es oft durch Bewegung ausgelöste Schmerzen die zu einem übermäßigen Gehen führen (Tipp: denken Sie auch an drückende Schuhe).

Auch psychische Ursachen kommen als interner Faktor in Frage. Stimmungen wie Angst, Aufregung, Anspannung, Unsicherheit können der Grund für den Bewegungsdrang sein. Gleiches gilt für Gefühle der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit. Nicht ausgeschlossen werden sollten ebenfalls schwerwiegendere Erkrankungen wie Depression oder Psychotische Störungen. Ebenfalls als psychische Ursache ist das - durch Hirnschäden allgemein und eine Demenz im Speziellen - in Mitleidenschaft gezogene Gedächtnis zu sehen. So kann es sein, dass die Person etwas sucht oder von etwas angezogen wird, das Ziel aber wieder vergisst und dann ziellos weiterzieht.

Negative externe Faktoren (Umwelt)

Mit fortschreitendem kognitiven Verlust kann auch der Einfluss von Umweltfaktoren zunehmen. Für Menschen mit Demenz können Dinge, die für ein fittes Gehirn schnell gelöst/eingeordnet werden können oder ausblendbar sind, zur starken Belastung werden. Hiervon betroffen ist vor allem die akustische und visuelle Wahrnehmung. Geräusche wie Hintergrundgespräche, Radio/TV, Telefon und Warnsignale versetzen Menschen mit Demenz in einen (dauerhaften) Alarmzustand, welcher die Hinlauftendenz auslösen kann. Gleiches gilt für starke Licht- und Farbkontraste, weshalb heutzutage beim (Um-)Bau von Pflegeheimen darauf geachtet wird, matte und strukturarme Böden zu verwenden. [https://www.malerblatt.de/werkstoffe/bodenbelaege/kautschukbelaege]

Umgang mit einer Hinlauftendenz

Sollte sich die Hinlauftendenz zu einem Problem für den Betroffenen oder seine Umwelt entwickeln, versuchen Sie herauszufinden, was Spannungen oder Unruhen verursacht. Fokussierte Beobachtung und Gespräche mit Angehörigen können helfen, das Verhalten zu erklären. Können diese Anreize reduziert oder vermieden werden? Kann der Person beigebracht werden, selbst darauf zu reagieren, oder müssen die Pflegepersonen sie von diesen Reizen abzuschirmen? Was hat früher Ruhe und Entspannung geboten? (Sinngebende) Beschäftigung, Entspannungsübungen oder auch eine Dusche / ein Bad können vielleicht Abhilfe schaffen. Dies sollte schon bei den ersten Anzeichen eines beginnenden Bewegungsdranges umgesetzt werden. Ist zu bestimmten Zeiten ein Laufdrang vorhanden, hilft manchmal eine Anpassung des Tagesprogramms, z.B. ein regelmäßiger Spaziergang am Morgen oder am frühen Nachmittag. Auch Angehörige können zur Entspannung beitragen, z.B. durch aufgezeichnete Aufnahmen oder ein Live-Videotelefonat (s. Simulierte Präsenz und Bindungstheorie).

Extra Tipps bei Hinlauftendenz:

  • nächtliche Hinlauftendenz: Zu frühes Zubettgehen fördert nächtliche Unruhe oder zu frühes Aufwachen. Sorgen Sie tagsüber für viel (körperliche) Aktivität. Vor dem Schlafengehen sollte die Toilette aufgesucht werden.

  • Besucher auf geschlossenen Stationen: Bewohner mit Lauftendenz neigen manchmal dazu, fremden Besuchern zu folgen, bzw. mit diesen mitzulaufen. Auf einer geschlossenen Station ist es deshalb wichtig hierfür zu sensibilisieren, wenn Zu- und Ausgänge benutzen werden.

Wie umgehen mit einer Hinlauftendenz im Pflegeheim?

Die folgenden Standards haben sich in der Arbeit mit Menschen mit Demenz etabliert, um deren Umwelt positiv zu beeinflussen und mit einer Hinlauftendenz umzugehen:

  • Vertrautheit und Erkennbarkeit: Vertraute Einrichtung und Dekoration der häuslichen Umgebung, klare Beschilderung (z.B. Toilette, Namensschilder an Zimmern).

  • Ruhezonen: Sitznischen / -ecken schaffen (zum Lesen, Essen/Trinken, Kontakt untereinander), Rückzugsmöglichkeiten in der Wohneinheit vorhalten.

  • Freiräume: Räume zum Ausleben der Hinlauftendenz, z.B. Sinnesgärten

  • Tarnung: optische Barrieren wie Stations- und Fahrstuhltüren in Wandfarbe oder beklebt mit Fotofolie (Bücherregal, Fenster, etc.).

  • (Un-)Zugänglichkeit: gut ausgeleuchtete (bei Tag und Nacht!), barrierefreie Flure und Wege, leicht zugänglicher Außenbereich, entweder innenliegend oder außen begrenzt (z.B. Zaun) -/- Zu- und Ausgänge bewusst baulich abseits des Wohnbereichs, komplexe Türentriegelung (z.B. gleichzeitiges Drücken von 2 Knöpfen)

  • Alarmierung / Verfolgung: Türalarm und Hausautomation zur Alarmierung, z. B. Warnsystem beim Betreten bestimmter Räume, Druckmatte., GPS-Tracker in Rollatoren, Gehstöcken, Kleidung etc.